Eines Tages packte mich ein Fieber, eine Leidenschaft …
Noch in der alten Heimat wohnend, las ich in unserer Tageszeitung einen sehr interessanten Artikel. Dieser berichtete von Melitta Czerwenka-Nagel, einer inzwischen 84-jährigen Weltklasse-Läuferin, die damals ihren 80-jährigen Geburtstag feierte. Immer wieder las ich diesen Artikel und konnte nicht glauben, dass man in diesem Alter noch locker 10 km und mehr im 5er Schnitt bewältigen kann. Das Laufen ist ein Wundermittel und wirkt besonders stark bei verletztem Gemüt, gebrochenem Herzen und in vielen schwierigen Situationen des Lebens, in denen man einen klaren Gedanken fassen und wichtige Entscheidungen treffen muss. Die starke Sauerstoffzufuhr bei diesem Sport lässt eben auch unser Gehirn besser arbeiten und so kommen mir oft geniale Ideen während einer trabenden Runde in den Sinn.
Mehrmals begann ich mit dem Joggen und immer wieder hörte ich damit auf. Woran lag das? Einerseits an der fehlenden Zeit, aber vor allem daran, dass ich mir diese Zeit nicht einfach frei nahm. Eine Stunde Gesundheit und Fitness nur für mich, das ´klingt einfach, ist aber je nach den Lebensumständen nicht so ohne Weiteres umzusetzen.
Als meine Tochter fast erwachsen war, kaum noch zuhause und wenn, dann recht selbständig bereits ihre eigenen Ziele verfolgte, zog es mich mehr und mehr hinaus in unseren schönen Wald gleich am Ende der Straße. Ich beschloss, das Laufen ganz vorsichtig und gründlich aufzubauen, um keine Verletzungen und Unpässlichkeiten zu riskieren. Ich las etwas über die Wichtigkeit von Grundlagenausdauer,und dass eine geringere Intensität wichtig wäre, wenn der Körper dazu angeregt werden sollte, nach und nach seine Energie aus den bestehenden Fettdepots zu gewinnen und nicht die schnellen Kohlehydrat-Reserven zu verbrennen. So lief ich wochen- und monatelang einen kleinen Rundkurs mit gutem Profil (Berg rauf und wieder hinunter und eine ebene Strecke) von ca. 1,8 km. Die ersten Male zwei Runden, irgendwann dann 3 und bei 4 Runden war ich sehr stolz auf mich. Sehr lange lief ich vier Runden und war danach immer sehr zufrieden mit mir. Eines Tages fühlte ich mich so gut, dass ich 6 Runden schaffte. Nun beschloss ich im Wald ausgesuchte Strecken zu laufen. So begann meine Laufleidenschaft. Die intensive Bewegung in stiller Natur durch den Zauber der Jahreszeiten, umgeben von Sonne, Wind, Regen, dem lieblichen Gesang der Amseln im Frühling und dem bunten Blätterrauschen im späten Herbst, sogar bei Eis und Schneefall, immer war es ein Erlebnis und tat so gut, ließ mich alles vergessen, was mich plagte.
Heute bin ich froh, dass ich mich einst aufrappelte und es schaffte, einen bestimmten Punkt zu überwinden. Doch immer noch gibt es Tage, an denen ich denke, “oh, jetzt könnte ich noch dies oder jenes tun…”. Dann lasse ich alles stehen und liegen, ziehe meine Laufschuhe an und ab geht es, raus in die Natur.
Unsere neue gemeinsame Wohnung sollte nicht gerade mitten in der Stadt liegen. Es war mir sehr wichtig, dass etwas Wald oder Wiesen zum Wandern, Laufen, Radeln und Natur genießen in gut erreichbarer Nähe sind. Südlich von Nürnberg wurden wir fündig und im Rednitzwiesengrund gibt es optimale Sportbedingungen und natürlich auch viel Grün zum Picknicken und einfach nur draußen sein. Besonders die Wege durch die Wälder erinnern mich an das Saarland. Doch die gut Befestigten, Asphaltierten erleichtern ein Laufen bei nassen Wetterverhältnissen ungemein.
Damals, als mich das „Lauffieber“ gepackt hatte, musste ich mir einmal den Vortrag eines Kumpels meines Ex-Mannes anhören, der kein Verständnis dafür hatte, dass man plötzlich im mittleren Lebensabschnitt beginnt, wie ein Verrückter Sport zu treiben, um dabei ein Bild des Jammers abzugeben und sich der völligen Lächerlichkeit preiszugeben. Alle, die es ab 40 noch einmal wissen wollten, hätten was an der Waffel. „Schau sie dir doch mal an, wie sie aussehen. Sie schwitzen, haben hochrote Köpfe und machen schmerzverzerrte Gesichter, während sie keuchend durch den Wald hetzten, das kann doch wirklich nicht gesund sein.“
Im Internet findet man viele nette Aphorismen über das Laufen oder einfach nur über die körperliche Anstrengung. Die Aussagen (Urheber leider unbekannt) „Verrückt ist ein Ausdruck, mit dem Faule gern Trainierende bezeichnen“ und „Bequemlichkeit ist ein Schleier, den man lüften muss, um das Erlebnis zu finden“ verdeutlichen sehr, dass viele Menschen erst glücklich und zufrieden sind, wenn sie – wie von einem inneren Drang getrieben – körperlich an ihre Grenzen gehen (diese einmal kennenlernen, wo sind sie überhaupt?). Für den ein oder anderen sicher eine sehr aufregende Sache!
Man kann auch sagen „wer läuft, erlebt, wie er lebt“, denn „der Weg zum Guten führt nicht immer über das Angenehme“. Die Aussage, dass jemand „alt ist, wer sich langweilt und trotzdem vor neuen Herausforderungen Angst hat“ ermutigt uns, so lange wie möglich aktiv zu bleiben, denn Muskelstärkung bis ins hohe Alter hinein bietet aus gesundheitlicher Sicht enorme Vorteile (die aktuelle sportmedizinische Wissenschaft bekräftigt dies ständig). Wir sind zum Laufen geboren, unser Überlebensplus war schon immer die Fähigkeit, lang und ausdauernd auf zwei Beinen laufen zu können.
Das Fazit vieler Studien: Wenn wir uns fast nicht mehr bewegen, nur noch Autofahren und sogar kleine Strecken mittels großer Verbrennungsmaschine zurücklegen, keine Treppen mehr gehen, nur noch Fahrstühle und Rolltreppen nutzen, ständig sitzen (viele von morgens früh bis abends spät), zuhause dann erneut am Tisch, am PC sitzen und anschließend auch noch auf dem Sofa, um fernzuschauen, wird unsere Vitalität und Gesundheit mit zunehmendem Alter mit Sicherheit auf der Strecke bleiben!!! (Im Durchschnitt verbringt der deutsche Bürger 1.340 Stunden vor dem TV, diese Zeit ist ausreichend für mindestens 300 Marathons.)
Körperliche Anstrengung erzeugt auch gewisse körperliche Reaktionen, wie zum Beispiel das Schwitzen. Ich las einmal, dass das Verlieren von Schweiß beim Sport auch einen reinigenden Effekt hat. Zum Grübeln bringen mich jedoch Menschen, die ein Problem mit der Tatsache haben, dass beim Sport die Schweißdrüsen zu arbeiten beginnen. Veganer oder überwiegend von Pflanzennahrung lebende Menschen haben erstaunlicherweise keinen unangenehmen Körpergeruch, diesen interessanten positiven Umstand sollte man selbst einmal erproben, erfahren. Schön finde ich auch den Spruch aus der Kletterszene: „Schweiß ist nur Schwäche, die den Körper verlässt!“
„Du bist nicht, was du bist, sondern das, was du aus dir machst.“ Und zu guter Letzt gab schon Goethe preis: „Von der Gewalt, die alle Wesen bindet, befreit der Mensch sich, der sich überwindet.“
In meiner Lebenserneuerungsphase spürte ich einen unglaublichen Drang, endlich einmal einen Halbmarathon zu finishen. Ich musste einfach wissen, ob ich mit veganer Ernährung, jedoch unregelmäßigem Training, aber mit diesem großen körperlichen Energiezuwachs, trotzdem eine solche Distanz schaffen könnte. Am 18.03. war der Tag der Tage (im läuferischen Sinn), 21,094 km an einem Stück zu laufen. Vor einigen Jahren, als ich mit dem Laufen begann und ich 5 km noch mit mehreren Gehpausen absolvieren musste, war diese Vorstellung schon ziemlich utopisch. Dieses sportliche Erlebnis verewigte ich in schriftlicher Form in meinen Notizen:
„Eine ebene Strecke sollte es für mein HM-Debüt sein und der deutsch-Französische Straßenlauf war genau eine solche, entlang der Saar bis Grosbliederstroff in Frankreich zum Wendepunkt bei km 10,549 km und dann alles wieder zurück, um bei km 21,0957 ins Ziel zu laufen.
Das Wetter versprach vieles, nur eines nicht: trocken zu bleiben. Es regnete, aber mittelmäßig. Ich entschied mich für die leichte Laufregenjacke, das“ run vegan-T-Shirt“ war leider nicht zu sehen, schade. Die kühlen 7,5°C waren aber wesentlich angenehmer als drückende Wärme, denn wenn der Motor mal am Kochen ist, doch dazu später mehr.
Plötzlich stand ich mitten im Startpulk, vor mir eine große Menschenmenge, teilweise ordentlich gekleidet, teilweise in ärmellosen Laufhemdchen über nackigem Oberkörper und einem ganz kurzen Sommerlaufhöschen, dann noch Socken und Schuhe, mehr nicht. Ob die sich da wohl mit dem Wetter nicht ein wenig vertan haben, dachte ich. Die meisten um mich herum begannen zu zappeln, viele trugen Uhren am Arm, die größer waren als mein Wecker. Was man da wohl alles ablesen kann, sagte ich zu mir. Irgendwann begann ich zu begreifen, dass ich umringt von Laufprofis war, denn der d-f. Straßenlauf ist auch gleichzeitig eine der ersten Langstrecken-Saarlandmeisterschaften im Jahr für alle möglichen Altersklassen. Also, da ging es für viele wirklich um die Wurst.
Kein Zeitstress, keine Uhr am Arm, ein bisschen nervös schon, denn ich wollte ja die ganze Strecke bis zum Schluss laufend schaffen. Konnte tags zuvor kaum etwas essen, hatte einfach keinen Hunger!
Dann ging es los. Die Veranstalter machen das immer ganz professionell mit großer Lautsprecheransage: „Wir wünschen allen Teilnehmern viel Erfolg …. gute Zeiten und einen tollen Lauf … usw.“
Die ersten zwei km dann das mir bekannte Phänomen. Alle liefen an mir vorbei und überholten mich und mein Abstand zum vor mir laufenden Pulk wurde immer größer. Irgendwann ein ängstlicher Blick nach hinten, den ich lange nicht wagte, war ich jetzt wirklich die Letzte??? Nein, zum Glück, es waren immer noch welche hinter mir, sogar mit deutlichem Abstand. Nach einer Weile kamen flappsende schwere Schritte geräuschmäßig immer näher an mich heran. Das kann keine Läuferin sein, nein, das höre ich genau. Ein älterer Herr schob sich Meter für Meter bis auf meine Höhe, wir unterhielten uns kurz. Ich erzählte von meinem Debüt. Er meinte nur kurz, „ja, dann machen sie schön langsam, dass sie am Ende noch fit sind“. Recht hat er, dachte ich, und ließ ihn mit kaum messbar höherer Geschwindigkeit an mir vorbeiziehen. 15 m vor mir pendelte sich sein Tempo ein. Ihn und einige Damen sah ich bis zum Wendepunkt dann immer genau vor mir.
Ab km 6 bereits lief auch ein älterer Herr genau hinter mir. Irgendwann drehte ich mich mal um, es fehlten zwischen uns kaum 3 m. Warum überholt er mich nicht, dachte ich. Er lief auch genau hinter mir, förmlich in meiner Spur.
Schnell war mein Stoßstangenkleber vergessen, als bei km 8-9 die ersten Profis auf dem Rückweg waren. Das war spannend. In großen Schritten kamen sie angehechtet, so würde ich fast einen Sprint laufen. Die noch hin Laufenden brav rechts, die Rückkehrenden auf der linken Spur. Dann sah und erlebte ich die gesamte saarländische Saarlandmeisterschafts-Läufer-Elite in allen Altersklassen. Konnte läuflings genau beobachten, wie angespannt und verbissen sie um ihre guten Zeiten kämpften. Ich locker trabend, sie teilweise mit aus Nase und Mund schwabberndem Schaum, teilweise mit weit aufgerissenen Mündern, nach Luft ringend, manche keuchend und in kurzen Abständen schnaufend. Meine Güte, kam es mir in den Sinn, der Motor ist jetzt echt am Kochen, es schäumt und brodelt, die Pumpe fährt volle Leistung. Die beinnackigen Läufer zeigten jetzt rote Hautpartien an den muskulösen Oberschenkeln, man sah somit das Blut förmlich in den wichtigsten Körperteilen extrem zirkulieren.
Am Wendepunkt standen zwei Helfer vom LTF Marpingen und munterten die Hobbyläufer des letzten Feldes auf. Und nach dem Wendepunkt, oh, ja jetzt geht’s zurück, prima…
Langsam begann die Euphorie in mir zu wachsen, wahrscheinlich waren schon einige Glückshormone im Umlauf. Ich dachte nur „heute werde ich zum ersten Mal in meinem Leben über 21 km an einem Stück laufen, das gibt’s doch nicht“. Ich war so happy, dass ich trotz Anstrengung grinste und wie beflügelt dahintrabte, ganz rhythmisch und im Takt. Mein Fersenkleber war auch noch hinter mir. Bei etwa km 14 wollte ich doch einmal wissen, wer mir da so hartnäckig im Genick saß. Ein Herr von 71 Jahren, der früher Sprinter war (200 und 400m-Läufe) erklärte mir dann sehr charmant, dass ich seine Lokomotive wäre. Er könnte sehr gut in meinem Tempo mitlaufen und benutzte mich als seinen Tempomat. Wir unterhielten uns eine Zeitlang, obwohl ich schon bemerkte, dass ich mehr Luft hatte als er. Dann waren wir wieder still. Wir sahen das Schild km 15, dann 16. Es kam dann bald schon die 17. Weiter war ich noch nie gelaufen, aber ich fühlte mich gut, sehr gut. Wir zogen uns dann gegenseitig und überholten sogar noch einige Hobbyläufer zwischen km 17 und 19. Ich dachte zuerst, das Tempo zurückzunehmen, aber meine Beinmuskulatur gab es absolut her, die Füße hätten wohl eher ein Veto eingelegt, wenn ich sie gefragt hätte. Ca. 6.200 Tonnen tragen Füße bei einem Marathon (HM dann die Hälfte), das konnte man km für km spüren.
Bald sahen wir die km-20-Marke. „Wir haben es fast geschafft“, rief ich aufgeregt. Als wir das Zieltor mit der laufenden Zeit sahen, traute ich meinen Augen nicht. Wir näherten uns einer Zeit von 2:08:00. Ich hatte mit 2 Stunden 30 Minuten gerechnet. Kurz vor dem Ziel konnte ich sogar noch einen kleinen Sprint einlegen, Wahnsinn. Wir dankten uns gegenseitig für das „Mitnehmen und Anspornen“. Hans-Dietrich gab dann sogar ehrlich zu, „wenn Sie nicht gewesen wären, hätte ich diese Zeit nicht geschafft“. Da war ich ganz gerührt und freute mich für ihn. Und ich war ja sowieso happy.
Jedem wünsche ich solch einen Moment im Leben …. den Moment, etwas geschafft zu haben!